Das Geschenk – Erweiterung zum Kurzfilm

Behutsam setzte er seinen gesunden Fuß auf dem Boden ab. Er hatte Probleme, das Gleichgewicht zu halten und hätte die Krücke fast schon wieder fallen gelassen. Doch zumindest waren seine Reflexe noch soweit vorhanden, dass er mit dem Arm schnell genug nach unten fuhr, um die Krücke aufzufangen, bevor sie scheppernd zu Boden fallen konnte. Ihm entfuhr ein Seufzen. Dieses blöde Ding. Er würde sich nie daran gewöhnen.
Der Hund – das Geschenk seiner Mutter – wartete bereits ungeduldig und kam schwanzwedelnd auf ihn zugestürmt. Mit lautem Bellen fing er an, kleine Sprünge in die Luft zu machen, ließ ihn dabei jedoch keinen Moment aus den Augen. Es schien so, als hätte er nicht vergessen, was genau der Junge in seiner linken Jackentasche versteckt hielt.
Einen kurzen Augenblick und mehrere umständliche Versuche später hielt der Junge den Ball erneut in der Hand, ganz zu Freuden des Hundes, der nun immer wilder vor ihm her hüpfte. „Na, willst du spielen?“, fragte er, die ersten Worte, die er an den Hund wandte. Naja, zumindest die ersten freundlichen. Zuerst hatte er nicht gewusst, was sich seine Mutter dabei gedacht hatte, ihm einen Hund zu schenken. Nicht nur einen Hund, nein, sondern genauso einen Krüppel wie er selbst. Doch das aufmunternde Bellen und der treuherzige Blick des Kleinen hatten ihn dann irgendwie doch umgestimmt, oder zumindest dazu gebracht, das Haus zu verlassen.
Mit einer großen Schwungbewegung nach hinten warf er den Ball schließlich bis ans andere Ende des Gartens, woraufhin der Hund auch schon prompt hinterhersauste. Durch seine Einschränkung war er vielleicht nicht ganz so schnell wie andere Hunde seiner Art, allerdings änderte das nichts daran, mit welcher Freude er dem Ball hinterherjagte. Mit einem lauten Kläffen brachte er ihn jedes Mal wieder zurück, wobei es einer Kunst glich, dass ihm der Ball dabei nicht aus seiner Schnauze fiel.
Er wusste gar nicht, wie lange es her war, seit er das letzte Mal freiwillig das Haus verlassen hatte. Seit dem Unfall war nichts mehr so gewesen, wie es einmal war. Er war nicht mehr so gewesen, wie er einmal war. Und trotzdem hatte er das Gefühl, dass alles um ihn herum einfach so weiterlief wie zuvor. Das einzige, das nicht mehr zu passen schien, war er selbst.
Mit einem Kopfschütteln drängte er diesen Gedanken zur Seite, bückte sich und hob den Ball auf, der nun wieder vor seinem Fuß lag. Er hasste es, darüber nachzudenken. Es brachte ohnehin nichts, denn im Endeffekt war er mit diesen Gedanken allein. Nicht einmal seine Mutter wusste davon. Sie war ohnehin Tag und Nacht am Arbeiten und fast nie zuhause.
Und dennoch, wenn er den Hund so beobachtete, durchschlich ihn ein Gefühl, dass er nur schwer einordnen konnte.
Genauso ein Krüppel wie ich, hatte er am Anfang gedacht. In gewisser Weise stimmte das auch, denn dem Hund fehlte ein Bein, genauso wie ihm selbst. Dennoch hatte er das Gefühl, dass er sich das nicht wirklich anmerken ließ. Obwohl er eingeschränkt war, hinderte ihn das nicht daran, trotzdem mit voller Freude durch den Garten zu Springen und zu Bellen als wäre er nicht anders als jeder andere Hund. Er hätte genauso in der Ecke liegen können, wehleidig darüber, dass er nie mehr richtig rennen können würde. Doch er hatte sich seinem Schicksal nicht ausgeliefert, sondern selbst entschieden, was er damit machen wollte.
Das war es, genau diese Erkenntnis, die den Jungen in diesem Augenblick durchfuhr. Er spürte, wie in seiner Brust ein Funken aufkeimte, zart und kaum wahrnehmbar, schwach flackernd wie das Züngeln einer kleinen Flamme.
Es dauerte kurz, bis er verstand, was es war.
Hoffnung.
Hoffnung darauf, dass es ihm vielleicht eines Tages genauso gehen könnte.
Dass nicht nur andere ihn akzeptieren konnten, sondern vor allem er selbst.
Ohne Vorwarnung wurde er plötzlich von etwas Hartem in den Bauch getroffen und taumelte rückwärts, versuchte, seinen Halt wieder zu erlangen und scheiterte dennoch. Mit einem lauten Rumps landete er auf dem Boden und stöhnte kurz auf, als ihn die Wucht des Aufpralls in die Knochen fuhr. Bevor er sich versah, saß der Hund mit dem Schwanz wedelnd auf ihm und leckte ihm einmal quer übers Gesicht.
Seine Mutter, die ihr Telefonat mittlerweile beendet hatte, kam zeitgleich aus der Tür gestürmt.
„Ist alles in Ordnung, geht es dir gut?“, fragte sie aufgebracht, während sie sich ein Bild von dem Geschehen machte und auf ihn zu gerannt kam, um ihm auf die Beine zu helfen.
Doch der Junge hielt seinen Blick auf seinen neuen Freund gerichtet, der immer noch auf ihm lag. Ein leises Lächeln stiel sich auf seine Lippen, während der Hund immer noch damit beschäftigt war, seinen Sabber auf seinem Gesicht zu verteilen. Und dann, mit einem Mal, lachte der Junge. Laut und herzlich, wie er es schon lange nicht mehr getan hatte.
„Ja, Mama, mir geht es gut.“ Und zum ersten Mal seit einer langen Zeit meinte er es auch so.

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