In der Wohnung von Frau E liegt auf dem grauen Simms ein Bild mit dem Motiv nach unten. Ihr Leben ist so klein, selbst wenn man es auf dem Viertel einer Papierservierte karikierte, würden leere Flecken bleiben, wo Details fehlen. Frau Es Dasein ist so schmal, es passt nicht einmal ihr ganzer Name hinein. Nur das E findet Platz zwischen der Höflichkeitsanrede ihrer Kolleg:innen und den Wänden, die sie sorgfältig erst um ihre Wohnung, dann um sich und dann um alles andere zog. Dieses E gehörte und gehört zu Maxi, sie heiratete ihn nicht nur, aber auch für den Anfang seines Nachnamens. Das E ist ein schmaler Buchstabe. Maxi hat nicht nur mehr Platz für seinen Namen in ihrer Welt – auch wenn es nur ein Spitzname ist, er hat auch mehr davon in ihrer gemeinsamen kleinen Wohnung.
Er sitzt. Frau E liegt, dabei macht sie sich besonders klein wie ein Ball oder eine junge Katze, bis ihr Leben auf weniger als einen halben Quadratmeter reduziert ist. Sie verlässt ihn nur, wenn ihre Lungenflügel gegen ihren kleinen grauen Willen zu viel Luft einziehen und sich ihr Brustkorb hebt oder für eine kalte Tasse Tee.
Frau E liegt. Maxi sitzt mit dem Gesicht erst in der Zeitung, dann im Abendessen, dann in einem Buch. Sie schweigt. Maxi spricht erst über Politik, dann über seinen Tag, dann über und mit Frau E, auch wenn sie selten antwortet. „Ich mag das Grau der Wände nicht“, sagt er und, „ich habe dunkelblau gekauft“. Frau E hält die Luft an, aber ihr gefällt der Gedanke, dass noch weniger als das Bisschen dieser Wohnung das ihre ist. In den Regalen stehen Maxis Bücher, auf dem Tisch sein Lieblingsessen vor dem Bett seine Puschen. Frau E läuft barfuß.
„Willst du nicht heute entscheiden?“, fragt er beim Blick auf den Nachtisch. Es sind zwei Sorten Kekse, für mehr fehlt der Platz, ihre Lieblinge und seine, die hellen und die dunklen einmal mit Schokostückchen, einmal mit Rosinen. An den meisten Tagen essen sie die Kekse, die Frau E am liebsten mag. Maxi sucht sie aus. Für viel mehr ist kein Raum an einem Abend in Frau Es Leben außer für die Kekse, das Atmen und Maxis Worte.
Wenn er dann neben ihr liegt, braucht Maxi fast das ganze Bett für sich, dabei ist er kleiner als der Durchschnitt. Das ist weder verwunderlich noch schlimm, denn Frau E hat nach ihrer Hochzeit auf ein gemeinsames Einzelbett bestanden und kann sich klein und akribisch an seiner Seite zusammenfalten.
„Vielleicht verschwinde ich irgendwann ganz in dir“, flüstert sie zufrieden. Maxi tut, als hätte er sie nicht gehört und macht sich etwas kleiner, um ihr nicht so viel Raum wegzunehmen, doch Frau E. rollt sich nur noch enger zusammen. Bis schließlich ihre Atemzüge so fein und ruhig werden, dass sie ihren kleinen Raum kaum noch verlassen muss.
Mit der Nachtluft füllt etwas anderes erst Frau Es Lungen, dann ihr Herz, dann diesen Knotenpunkt irgendwo dazwischen, wo eigentlich nichts ist, der aber beißt und brennt, wenn man zu viel fühlt. Vor vielen Jahren hat sie versucht, sich diese Stelle aus der Haut zu brennen. Seitdem trägt sie dort eine Brandnarbe, wie alles an Frau E ist sie nicht besonders groß. Wie alles, außer dem, was sie nachts, wenn sie sich nicht akribisch genug faltet, überkommt. Da hängt ein Fuß aus ihrer menschlichen Kugel und da wirkt im Dämmerlicht das grau der Wände schon wie blau, dabei hat Maxi noch gar nicht gestrichen.
Frau E hat das Gefühl zu explodieren. In ihren Ohren klingt ein Rauschen, ein Toben, auf ihren Lippen liegt Salz, ob fremdes oder eigenes weiß sie nicht zu sagen. Die Wände ihrer kleinen Wohnung sind nutzlos gegen die tobenden Wellen, sie reißen alles nieder, selbst jetzt, wo da kaum etwas ist. Sie fluten alle selbsterrichteten Walle zu Grunde, bis da keine Rahmen mehr sind, nur noch Fläche, so groß, dass man sich darin schon beim bloßen Gedanken an sie verirrt. Egal wie weit es schwemmt, das Salzwasser dünnt sich nicht aus und irgendwo im Magen einer schlafenden Frau E geschieht plötzlich ein Ruck.
Als hätte sich ein Seil um ihr Innerstes geschlungen, um genau diesen Knoten zwischen Lunge und Herz und zöge jetzt, sie fort, sie aus sich selbst heraus, aus der kleinen schlafenden Welt über den Ozean. Frau E müsste nur noch das kleinste Bisschen nachgeben und die Tide würde sie mit sich reißen, einem streng gespannten goldenen Faden hinterher. Bis sie den blauen Horizont erreichte, hätte sie sich selbst in dem Gefühl verloren, was in ihrer Brust immer enger und beißender wurde.
Vielleicht, träumt sie, ist das sich verlieren gar nicht so viel schlimmer als das Verschwinden und gibt sich noch ein klitzekleines Bisschen weiter hin. Hinter ihr verschwindet der bekannte Horizont, vor ihr tut sich kein neuer auf und obwohl sie dem Ziehen folgt, wird es immer stärker. Frau E sinkt langsam in die Wellen hinab. Kurz bevor ihr Körper gänzlich im wogenden Salz verschwindet, läuft das salzige Bitter in ihren Mund. Sie hustet. Schreckt auf. Atmet. Plötzlich ist es zu eng neben Maxi, der zufrieden schnarcht.
Frau E steht auf, wie um sich zu vergewissern, dass alle Wände und Grenzen noch da sind. Der Ozean mag fort sein, aber sie kann ihn noch spüren: Diesen festen Knoten, der sich einmal um ihr Innerstes geschlungen hat und den seitdem keine Schere dieser Welt zu zerschneiden vermag. Hinter ihren Lidern brechen Wellen jedes Blinzeln, an Schlaf ist nicht zu denken. Überhaupt ist nicht zu denken, erinnert sich Frau E, dafür gibt es nicht viel Platz in ihrer kleinen grauen Welt. Das ist gut so, stattdessen steht sie vor dem grauen Simms. Darauf liegt ein Bild mit dem Motiv nach unten.