Wartezimmergedanken

Wir sitzen in einem Wartezimmer. Ihr wisst schon einer dieser Räume mit Stühlen an allen Wänden und einer Ecke mit Kinderspielzeug und viel zu viel Platz, der bei vollem Andrang plötzlich nicht mehr ausreicht. Und wir warten alle auf das gleiche, aber doch nicht dasselbe. Ich bin noch nicht lange hier – und ihr? Manche standen schon vor der Öffnungszeit an der Tür und müssen eigentlich dringend weiter. Es wird welche geben, die erst ankommen, wenn die Ersten schon wieder verschwunden und raus aus der Sache sind. Aber irgendwann sind alle hier und solange wir hier sind, sind alle gleich.

Es ist ziemlich voll, alle Plätze sind besetzt. Manche sitzen auf den Stühlen mit angenehmen Abstand zueinander, andere haben auf dem Sofa Platz genommen und versuchen krampfhaft ihre Schenkel davon abzuhalten, sich gegenseitig zu berühren. Ein paar haben sich auf den Schoß ihrer Verwandten gequetscht. Man muss sich ja ausruhen. Für einige war gar kein Sitzplatz mehr frei, sie stehen verloren im Raum und in die Ecken gedrängt. Man sieht ihnen an, dass das nicht sonderlich angenehm ist. Hin und wieder geht einer von ihnen zu den Stuhlsitzern, die neben sich noch eine Tasche ausgebreitet haben oder ihre Füße ausstrecken, und bittet um Platz. Selten wird er gewehrt. Die gibt es nämlich auch. Die, die trotz der vollen und geladenen Stimmung ihre Sachen neben sich auf Stühle stellen oder nicht aufstehen, obwohl sie ja schon recht lange sitzen und man sich ja auch abwechseln könnte.

Jedes Mal, wenn jemand vom Personal am Wartezimmer vorbeiläuft heben sie den Kopf. Sie wollen ganz besonders, dass sich das Ganze schnell entspannt. Nicht, dass sie ihren extra Sitzplatz noch teilen müssen.

Wenn wir ehrlich sind machen wir das alle, dieses Nachsehen – ich auch. Vielleicht stehe ich zwischendurch auf, wenn ich kann und sage „setz dich“. Nur werde ich so schnell wieder müde und dann sage ich „bitte“ und kriege meinen reservierten Platz zurück. Ich weiß trotzdem nicht, wie sich stehen müssen anfühlt. Immer ruckt mein Kopf ein kleines bisschen und auch wenn ich es nicht zugebe, werde ich immer nervöser und ich weiß, dass geht euch auch so.

Es gibt Leute, die haben Bücher mitgebracht, Essen, Trinken und Kopfhörer. Die haben mehr als sie brauchen oder genau genug oder nur ihren Hausschlüssel und ein bisschen Kleingeld in der Hosentasche. Manche haben nicht mal das. Dementsprechend sind einige besser im Warten als andere und sagen sich gegenseitig „das die nicht warten können, pfui“. Da gibt es die, die viel reden und nicht alle können flüstern und manche versuchen es auch gar nicht. Viele schauen auch einfach nur aus dem Fenster und dann zueinander und schnell wieder weg. Man könnte meinen, sie hätten Angst voreinander und vielleicht haben sie das auch, denn niemand weiß weswegen der andere hier ist und das verunsichert mehr als es sollte.

Manche wippen mit den Füßen. Viele wippen und trippeln und seufzen. „Shht“, zischen die Ruhigen und manche zischen den Ruhigen: „Lass sie doch. Was wisst ihr denn schon von denen?“ zu. In den hinteren Reihen verdrehen manche, die Augen über das Ganze und direkt neben ihnen die, die gar keinen Kopf dafür haben, überhaupt über das Trippeln nachzudenken.

Da gibt es jene, die schweben. Die einander sagen „es ist alles gut“ und „es wird alles gut“ und „du weißt, da ist nichts“. Aber die wissen, dass da doch was ist. Sie warten darauf, dass sie etwas auf den Boden holt. Aber gleichzeitig würden sie am Liebsten für immer in der Ungewissheit bleiben. Sie haben Angst vor der Angst.

Dazwischen, diese taxierend, hocken Realisten. Sie wissen, dass es auch um sie geht. Aber viel mehr beäugen sie die Schwebenden und die Eilenden und die Geduldigen. Und auch wenn sie es nicht zugeben, auch sie sorgen sich.

Und dann gibt es andere, die mit einer Gewalt auf den Boden gedrückt werden, dass sie sich nicht mal mehr sicher sind, ob sie denn noch aufstehen können, wenn oder falls die Warterei dann endlich mal vorbeigeht. Ob sie das danach, die Behandlung, die Entlassung überhaupt genießen können. Ob sie je wieder rauskommen.

Und neben ihnen Kinder. Kinder, denen es vorkommt als wären sie schon Jahre hier, obwohl die Spielsachen helfen. Hin und wieder schaut eines auf und dann quengelt es. Alle Erwachsenen schütteln die Köpfe und da ist wieder dieses „shht“ von manchen und dieses „man das sind Kinder, verdammt“, in den Antworten und das unterschwellige „darüber müssen wir jetzt auch noch diskutieren?“ über allem. Aber wenn sie alle, alle ehrlich wären, dann sind sie froh, dass die Kinder quengeln, damit sie es nicht müssen.

Wenn die Stille eintritt, dann hört man manchmal leise „Wie geht’s dir?“ und das klingt immer falsch und immer oberflächlich. Aber es hilft. Und während sich die Zeit hinzieht, gibt es auch immer mehr, denen dabei die Tränen in die Augen treten, die sich selbst umarmen. Da sind „ich kann das bald nicht mehr“s neben „du machst das so gut“s und zwischen „ich habe Angst“s. So oft „ich habe Angst“ von Menschen, die nicht verstehen, warum die Anderen überhaupt Angst haben. Weil “die Anderen” doch gar keinen Grund dazu haben.

Aber das ist nicht alles. Personen am Eingang, die gerade erst ankamen, kramen nach Taschentüchern für die länger Wartenden. Bei den Spielsachen liest jemand laut ein Buch vor. Man hilft einander, sich auf das Warten einzustellen. Teilt Bücher miteinander und Ladekabel und Beruhigungszigaretten und immer wieder, immer wieder teilt man das Erinnern, das Beruhigen, ein: „Das ist nicht für immer“.

Schreibe einen Kommentar