Oder sich selbst der größte Feind
Eines Tages steht man auf und begreift plötzlich, dass man die Welt nicht ändern kann oder dass motivierende Wandtattoos nie cool waren und nie sein werden. Ich jedenfalls hatte so ein Aha- Erlebnis an einem der unangenehmsten Orte der Welt direkt nach Bahnhofstoiletten: Die Sammelumkleide eines Schwimmbads.
Seit ich angefangen habe, mich mehr mit feministischen Themen zu beschäftigen, war ich zu beschäftigt, um weiter regelmäßig meine Bahnen zu schwimmen. Also stand ich an diesem speziellen Tag zum ersten Mal seit langem in einer überfüllten Schwimmbadumkleide und erlebte den völligen Overload. Überall waren Mädchen und Frauen jeden Alters dabei sich an- oder auszuziehen. Dementsprechend waren alle Kabinen besetzt. An sich habe ich kein Problem mit Nacktsein oder nackten Menschen. Eigentlich bin ich die, die oft vergisst, dass es anderen unangenehm ist, wenn man eben kurz die Badezimmertür auflässt oder schnell nur in Unterwäsche bekleidet durch das Haus flitzt.
Nur in Schwimmbädern tue ich mir tendenziell schwer, seit mein Grundschulklassenkamerad seiner Zeit vergessen hatte, seine Badehose anzuziehen und daraufhin von 20 ZweitklässlerInnen ausgelacht wurde. Sowas bekommt man nicht so leicht aus dem Kopf.
Aber an diesem speziellen Tag war ich in Eile. Also warf ich meine Klamotten auf eine von den vier Bänken. Ist ja kein Ding. Tatsächlich war es mir vollkommen egal, dass da Menschen waren. Feminismus hat nämlich nicht nur mein Welt- sondern auch mein Selbstbild beeinflusst. Warum sollte sich irgendjemand außer mir um meinen Körper kümmern? Warum sollte ich mich wiederum darum kümmern, was andere darüber denken? Diese Erkenntnis war aber gar nicht das zuvor angekündigte Aha-Erlebnis.
Das hatte ich erst ein wenig später, als eine Mutter ihre Taschen neben mir auf die Bank stellte und ihre drei Kinder zu sich rief, alle unter fünf. Zwei Jungs, ein Mädchen.
Kennt ihr dieses unbestimmte Unwohlgefühl in sozialen Situationen? Das hatte ich damals beinahe augenblicklich. Intuitiv dachte ich sofort „da sind Jungs, hier kann ich mich nicht umziehen“. Es ist derselbe Automatismus, der mir in der fünften Klasse eine unangenehme Gänsehaut bescherte, wenn eine Gruppe Jungs an der Mädchenumkleide vorbeilief. Das andere Mädchen mich in Unterwäsche sehen sollten, war schon unangenehm. Aber Jungs? Ne, das durfte überhaupt nicht sein. Klar, heute hat sich das etwas verändert, trotzdem bleibt dieser Hintergedanke. Fremde Mädchen und Frauen* das geht schon irgendwie in Ordnung. Alles andere fühlt sich (manchmal nur kurz) meistens aber länger doof an. Selbst im Schwimmbad noch halb Chlorwassertropfend stellte sich also dieser Automatismus ein.
Erst zwei Sekunden später fiel mir auf, wie dumm das eigentlich ist. Erstens waren die herumspringenden Lärmproduzenten keine Jungs, es waren Kinder. Ich bin sonst meistens die erste, die sich über die frühe Sexualisierung von Kindern aufregt, wenn mal wieder eine Doku über Kinderschönheitswettbewerbe gedreht wird. Warum also sollte ich hier in genau diesem Muster denken?
Klar, nackte Menschen werden automatisch mit Sexuellem verbunden, aber diese Kinder interessieren sich weder für mich noch für eine von den anderen Frauen* in dieser Umkleide. Sie wollen einzig und allein in ihre Badehosen schlüpfen und so vom Rand ins Becken springen, dass sie dabei alle anderen Badegäste stören. In ihrem Alter bin ich auch noch zu jedem ins Bad reingeplatzt und es war mir vollkommen schnurzpiep egal.
Zweitens sollte es überhaupt vollkommen egal sein vor wem ich mich umziehe, wenn ich mich umziehe, sollte das niemanden interessieren. Das ist ein Punkt über den ich schon zu viele nervige Diskussionen geführt habe. Aber jetzt mal im Ernst: Menschen müssen Klamotten wechseln. Lasst sie das doch tun. Man muss ja nicht jedes Mal so ein Drama daraus machen. Bestes Beispiel dafür war übrigens ein Zwischenfall, bei einer Schulexkursion. Für den praktischen Teil mussten wir uns einen großes T-Shirt als Kittel anziehen. Als wir damit fertig waren, blieb beim anschließenden Umziehen mein eigenes Oberteil im Kittel hängen. Sofort eilten mir zwei Mädchen zu Hilfe, um es wieder herunterzuziehen. Damals war ich nur dankbar und auch wenn ich das heute noch bin, inzwischen denke ich zu gleichen Teilen „Ja und? Ich hatte einen schönen BH an und der hat viel (zu viel) Geld gekostet. Ihr seht doch auch meinen Bikini, also wo ist das Problem?
Ich weiß diese Dinge. Trotzdem war mein erster Impuls in ein Denkmuster zu geraten, das ich mein Leben lang gelernt habe. Das schien mir wie die größte Erkenntnis überhaupt. Auch wenn es sich nicht so anfühlt, ist es okay, manchmal in diese Muster zurückzufallen. Manchmal fühlt man sich unwohl und das kann man in diesem Moment dann nicht abschalten. Aber man kann sich bewusst machen, dass und warum es nicht notwendig ist. Wir sind uns da selbst der größte Feind, wenn wir uns diese Gedanken verbieten.
Was zählt ist, dass wir uns in diesen Automatismen erwischen, um dann etwas an ihnen zu ändern. Nur weil ich weiß, wie viele einzelne Erlebnisse mein eigenes Verständnis meiner Umwelt geprägt haben, kann ich mir hin und wieder sagen „Hey, kann ich verstehen ja, aber ist ziemlich dumm. Das wissen wir besser. Lass uns das mal bitte ändern.“
Seit diesem Tag zum Beispiel hatte ich nie wieder ein Problem damit mich im Schwimmbad oder sonst wo vor anderen umzuziehen, egal ob sie jetzt einen Penis zwischen den Beinen hat oder nicht.